Noch sind die genauen Bedingungen, zu denen ein Brexit stattfinden wird, politisch nicht ausgehandelt. Doch schon jetzt stellen sich die Unternehmen auf die zukünftigen Entwicklungen ein. Seitdem die britische Premierministerin Theresa May angekündigt hatte, dass ein harter Brexit vielen Finanzunternehmen den Zugriff auf den Europäischen Binnenmarkt erschweren könnte, beobachten die Banken das politische Geschehen mit Nervosität. Einige Folgen dieser Entwicklungen zeichnen sich schon jetzt ab.
Wohin gehen die Finanzfachkräfte?
Insbesondere lässt sich bereits jetzt festhalten, dass einige Finanzunternehmen kräftig daran arbeiten, ihr Geschäft von Großbritannien in die umliegenden Staaten zu verlagern. Allerdings warnen Experten davor, die anstehenden Personalbewegungen zu sehr zu dramatisieren oder nur ihre Kurzzeitfolgen zu betrachten. So ist Jan Veder von der Options Group Deutschland der Meinung, dass viele Finanzfachkräfte trotz der Brexit-Bedingungen in London bleiben werden, weil ihre Netzwerke dort am stärksten sind.
Personalbewegungen, wie sie beispielsweise das Magazin Forbes analysiert hat, könnten lediglich kurzfristige Resultate der Brexit-Verhandlungen sein. Anfang dieses Jahres stellte das Magazin fest, dass die bekannte Investmentfirma Goldman Sachs ihr Personal in weiten Teilen aus London nach Frankfurt verlegen will, was die Autoren dazu veranlasste, die Mainmetropole zum „Brexit-Gewinner“ zu erklären.
Bislang zählte Großbritannien als wichtigstes Territorium der europäischen Banken, wobei insbesondere London mit mehreren hunderttausend Beschäftigten im Finanzgewerbe als Hauptstadt der Banken schlechthin galt. Wohin die Finanzwelt zieht, hat in Großbritannien enorme wirtschaftliche Konsequenzen: Etwa 12 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes lassen sich auf den Finanzsektor zurückführen.
Hintergründe für die Bewegungen auf dem europäischen Finanzmarkt
Eine der Ursachen für plötzliche Bewegungen im Finanzsektor ist eine bestimmte europäische Gesetzgebung, das sogenannte „financial passporting“. Dieses Gesetz hat Finanzgeschäfte für Banken innerhalb der Europäischen Union bislang enorm vereinfacht. Es gewährleistet, dass Banken, die in einem EU-Mitgliedsstaat ansässig sind und dort der Finanzaufsicht unterliegen, auch in anderen EU-Staaten Dienstleistungen anbieten dürfen, ohne dass sie dafür in diesen Staaten eine eigene Beaufsichtigung der Behörden benötigen.
Mit ihrer einmaligen Beaufsichtigung in einem EU-Staat wird ihnen also quasi ein „Finanzpass“ ausgestellt, mit dem sie im EU-Binnenmarkt frei wirtschaften können. Ob und wie das „financial passporting“ auch bei einem Brexit weitergeführt werden könnte, wird derzeit noch diskutiert. Einerseits hat die britische Regierung aus den genannten Gründen ein enormes Interesse daran, Finanzkräfte im Land zu behalten. Nach neuesten Verlautbarungen der britischen Premierministerin sieht aber derzeit alles danach aus, als würden britische Banken ihren ungehinderten Zugriff auf den Binnenmarkt verlieren.
Das führt dazu, dass sich Banken darum kümmern müssen, am besten noch vor Ende der Brexit-Verhandlungen einen Firmensitz in den EU-Staaten zu errichten, in denen sie auch in Zukunft Geschäfte machen wollen. Die Europäische Zentralbank hat festgelegt, dass zentrale Funktionen eines Finanzdienstleisters in der EU angesiedelt sein müssen, um von der Gesetzgebung Gebrauch machen zu können. Darunter zählt die EZB unter anderem das regionale Management und die interne Revision.
Droht eine Kettenreaktion?
Was Beobachter der Märkte an den Brexit-Verhandlungen am meisten verunsichert, ist die Tatsache, dass die genauen Folgen der politischen Entscheidungen schwer abschätzbar sind. Unter Umständen könnte, wie Jan Veder betont, eine allzu dramatische Entwicklung sogar gänzlich ausbleiben, wenn die Märkte sich weiterhin selbst regulieren. Andere Einschätzungen gehen aber durchaus davon aus, dass der britischen Finanzbranche hunderttausende Arbeitsplätze verlorengehen könnten – mit heftigen Folgen für die britische Wirtschaft und den Europäischen Binnenmarkt allgemein.
Ein weiter Punkt wird hierbei häufig genannt: Die nach wie vor große Nachfrage nach Fachkräften erfordert ein Einwanderungsgesetz, das Arbeitsmigration zulässt. Sollte Großbritannien auch diesbezüglich der Einwanderung einen rigorosen Riegel vorschieben, könnte die Rekrutierung von Fachkräften in naher Zukunft ausgesprochen schwierig werden. Nicht nur deshalb plädieren Vereinigungen wie der britische Lobbyverband City UK dafür, dass ein Brexit nicht nur mit konkreten Bestimmungen für die Finanzbranche, sondern auch mit vernünftigen Gesetzen zur Einwanderung einhergehen müsse.